Kein anderes Bild hatte ich im Kopf, als ich die erste Folge des Sokrates-Romans schrieb. Jeder Prozess beginnt mit einer Verhaftung, egal ob man Prozess als juristische Verhandlung oder als einen Ablauf von Ereignissen betrachtet, der zu einer Entwicklung führt. Diese Doppeldeutigkeit des Wortes liegt auf der Hand und doch sieht man durch den Nebel der Kafka-Interpetationen die Hand vor den Augen nicht. Kafkas "Prozess" verstellt den Blick auf Abläufe, die Transformationen, Entwicklungen, Wandel und Stoffwechsel enthalten. Mit anderen Worten: die Bürokratie verstellt den Blick auf das Leben. Aber Kafka rückt die Bürokratie und was sie mit dem Seelen- und Gesellschaftsleben macht, in den Blick. Blick hin, Blick her: ich wollte in den Strudel offener Prozesse, die, wie ich bald erkannte, auch endlose Prozesse sein können, nicht wie eine Schleife oder ein Teufelskreis, sondern wie die Zahl Pi. Das wurde mir im Zusammenhang mit dem Roman sehr spät erst bewusst. Aber poetisches Schreiben ist kein teleologischer Prozess, sondern ein dynamisch emergenter. Aber wenn der Verlauf von Ereignissen nicht wie ein Sog wirken würde, in den man gerät und aus dem man sich nicht so einfach befreien kann, würde die Doppeldeutigkeit des Prozesses auch viel an Dramatik verlieren. Kafka lehrt uns, wie Bürokratie mit den Fäden ihrer Paragraphen und exekutiven Organisationen gesellschaftliches und individuelles Leben umspinnt und in ihrem Netz gefangen hält wie eine Spinne die Fliegen, die sie fängt, bevor sie sie verätzt und verspeist. Das Leben dient der Bürokratie als Nahrung. Egal, wie man den Begriff des Prozesses dreht und versteht, immer ist man in ihm verhaftet. Wie in einem fahrenden Zug lässt sich die Tür nicht einfach zum Aussteigen öffnen, egal, ob man plötzlich realisiert hat, dass man sich im falschen Zug befindet. Wohin der Prozess führt, lässt sich nicht einfach entscheiden und schon gar nicht die Richtung ändern. Josef K. in Kafkas "Prozess" wirkt manchmal so, als würde er empört aufschreien: "Ich will sofort den Zugführer sprechen!" Er ist fest davon überzeugt, dass er nicht in diesen Zug gehört. Und dann geht die ganze Lamentiererei los: niemand im Zug bleibt davon unbehelligt, dass Josef K. nicht in diesen Zug gehört. Damit stört er die Ruhe der anderen Reisenden, die sich zu ihm irgendwie verhalten müssen, um einfach ihre Ruhe zu haben. Sie haben die Ordnung akzeptiert, sich darin halbwegs wohlig eingerichtet und es stört sie scheinbar nicht, dass sie nicht nach eigenem Gusto aussteigen können, um Landschaft oder Orte zu genießen, die sie durchreisen. Und Josef K. Verweigert sich einem sinnvollen Erkenntnis- und Wachstumsprozess für sich selbst, indem er darauf besteht, den Zug selbst steuern und nicht nur Fahrt, Geschwindigkeit und die Stopps, sondern auch absurderweise die Fahrtrichtung selbst bestimmen zu wollen. Aber eigentlich deute ich hier K. auch falsch, denn er ist keineswegs von sich überzeugt und ausschließlich empört. Er ist eher in dem schlaftrunkenen Taumel wie in Nietzsches "trunkenem Lied". Eine Antwort darauf, was die Mitternacht spricht, wird eigentlich nicht gegeben. Da ist auf der einen Seite Zarathustras Aufforderung: "O Mensch gib Acht! Was spricht die tiefe Mitternacht?" Und auf der anderen Seite das schlaftrunkene Gestammel des aus dem Schlaf gerissenen Menschen als Bericht darüber, was er im Moment erlebt. Aber eine zuverlässige inhaltliche Aussage darüber, was die Mitternacht spricht, fehlt.
Kann Uri Nachtigall im Sokrates-Roman diese Erkenntnisleistung erbringen? Er verlässt seine Wohnung, verliert vorübergehend sein Auto, weil jemand Zucker in den Tank mischt und er verliert seine Freundin und Anwältin Aylin Heersold. Kaum ist die Anwältin eingeführt, schon wird sie niedergestochen und ihre Leiche dient dem nekrophilen Gärtnergehilfen im Gartenhäuschen der Villa als Lustobjekt, bis Friedhelm Förster dem scheußlichen Treiben ein Ende setzt. Dieser Handlungsstrang entfernt sich rapide von Uri Nachtigall. Hat er überhaupt noch mit seinem Prozess etwas zu tun? Wir können ja auch denken, dass die anderen Reisenden im Zug andere Erlebnisse, Gedanken und Interessen haben. Aus einer anderen Perspektive wirkt der Theaterphilosoph wie jemand, der weltvergessen auf einem stillgelegten Bahnhof auf den Zug wartet und dabei sich mit literarischen Spielereien die Zeit vertreibt. Und die fürsorgliche Krankenschwester will ihn in dem Glauben lassen, dass er ruhig und entspannt weiterspielen soll, bis der Zug kommt, den er für seine Weiterreise nehmen kann. Oder ist er in einem abgestellten Zug auf einem Nebengleis und die Krankenschwester hat die Aufgabe, dafür zu sorgen, dass die "Reisenden" dies nicht bemerken?
Aber ist das wirklich so?
Nein. Das ist nur eine Deutungsmöglichkeit unter vielen, die sich für mich anbietet, wenn ich meinen eigenen Roman mit fremden Augen betrachte, ohne dass mir irgendeine bestimmte Deutung etwas bedeuten würde. Kein Ziel, keine bestimmte beabsichtigte Aussage als Botschaft, vielmehr ein Spiel der Möglichkeiten. So einfach ist es mit dem, was der Dichter mit seinem Werk sagen will, nicht! Höhnisch könnte man mir nun zurückwerfen, ich wüsste selbst nicht, was ich mit meinem SOKRATES-Roman sagen wolle. Ja, das stimmt. Aber was daran disqualifiziert mich als Dichter meines Romans? Unverstand könnte darauf sagen: "Du weißt selber nicht, was du mit deinem Roman sagen willst, also ist er vollkommen sinnlos!" Nein, das ist ein Trugschluss. Der Sinn eines literarischen Werkes ist nicht die Intention seines Autors, sondern die Interpretationen der Rezipienten. Im Leseakt realisiert sich der Sinn. Daher ist ein ungelesenes Werk jeglichen Sinnes beraubt.
Das ist das Schlimmste, was einem Werk passieren kann: es wird einfach von niemandem wahrgenommen; Oder es wird ignoriert, was nicht dasselbe ist; denn Ignoranz ist ein bewusstes Übergehen. Werke können aber auch deshalb nicht wahrgenommen werden, weil niemand von deren Existenz weiß. Manchmal greifen Ignoranz und letzteres erfolgreich ineinander: die Literaturkritik, die Feuilletons interessieren sich für ein Buch nicht, obwohl es ihnen zur Rezension vorgelegt und bittend bekannt gemacht wird, aber sie haben anderes im Sinn: andere Verlage, andere Autoren, andere Themen. Das ist Ignoranz. "Ach, er hat sein Buch selbst verlegt, dann kann es nichts taugen, sonst hätte er einen Verlag dafür gefunden" - das ist Arroganz! Aber ist Ignoranz nicht manchmal auch gerechtfertigt? Gibt es denn nur geniale, wundervolle, qualitativ hochwertige Werke auf dem Markt? Wird einem Werk immer Unrecht angetan, wenn es links liegen gelassen wird? So lügen sich Autoren natürlich auch manchmal etwas selbst in die Tasche. Daran könnte das Näschen wachsen; durch die sokratische tragische Weisheit: "Ich weiß, dass ich nichts weiß" abgebrochen, weil so viel Weisheit und Wahrheit gegenüber der Lüge einem schon mal das Nasenbein brechen kann, wächst das Näschen wieder wie bei Pinocchio etwas nach, wenn man sich selbst etwas vorflunkern kann: "Ja, natürlich gibt es so viele Schundromane und Kitsch, aber mein Roman gehört nicht dazu!"
So eine Behauptung sollte zumindest sorgfältig geprüft und gut begründet werden. Aber können das Autorinnen und Autoren überhaupt selbst leisten? Viele sind unsicher, bleiben verunsichert, weil sie eigentlich auch mit ihren eigenen poetischen Hürden beim Verfassen zu kämpfen haben, dass sie nicht auch noch die Kraft aufbringen können, ihr eigenes Werk chirurgisch zu zerlegen. Welcher Chirurg operiert schon sich selbst? So etwas von sich zu behaupten, riecht schon nach einer Nasenverlängerung!
Aber kommen wir noch einmal auf Uri Nachtigall in SOKRATES zurück: wer seine Nase überall reinsteckt, wie Gittes in Roman Polanskis "Chinatown", kann schon mal Nasenverletzungen erleiden!
Uri Nachtigall ist aber kein Privatdetektiv, obwohl auch ein solcher im SOKRATES-Roman angelegt ist, nämlich Niklas Hardenberg, sondern ein Theaterphilosoph. Damit ist die Parallele zu meiner biographischen Existenz, wenn auch etwas distanziert, mein Avatar ist eben Uri Nachtigall, das "Vögelchen", wie Schwester Maya den Besuch in der Psycho-Villa mit der gebrochenen Nase nennt, und nicht Niklas Hardenberg. Aber haben nicht alle Figuren etwas mit dem Autor zu tun. Ja, ja, wenn man nur wüsste, was!
Ich kann auf die hier angeschnittenen Fragen gar keine abschließenden Antworten geben. Die Fragen sind wichtig und müssen von vielen erörtert werden und nicht von einem im Alleingang.
Ich drehe in Gedanken den Pinocchio-Effekt um. Wer lügt, bekommt eine längere Nase, wer zu sehr nach der Wahrheit sucht, erleidet einen Nasenbeinbruch.
Kommentare
Kommentar veröffentlichen