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Beerenpflücken

Beerenpflücken für SOKRATES


An einem Morgen noch vor dem Kaffee, das Bett ist noch nicht gemacht und der Himmel unter der Schädeldecke heiter bis wolkig. Hier und da wie Wetterleuchten aus der Ferne Gedankenblitze. Ein Autorenkollege, den ich sehr schätze, hat vor Monaten einen Satz auf Facebook gepostet, der mich wie ein Donnerschlag gerührt hat. Er war auf Türkisch und ich habe sofort eine Überstezung versucht und nein, die Melancholie und die Tragikomik des Satzes, der literarisch auf einem kafkaesken Niveau steht, habe ich nicht hinbekommen. Auf Deutsch holpert er und stößt wie gegen eine fragile Vase an meinen Glauben an die Übersetzbarkeit in einer etwas freien Nachdichtung. Eine Nachdichtung, die den Geist des zu übersetzenden Satzes erfassen und in einer anderen Sprache wiedergeben muss. Auf die Wörtlichkeit kommt es nicht an, sondern auf den Sinn, der eben aus diesem zu erfassenden Geist besteht. Geister aber bewohnen die Zwischenräume zwischen Himmel und Erde, zwischen den Buchstaben, zwischen den Worten und Zeilen. Sie wechseln ihr Aussehen von Sprache zu Sprache, ihre Farben und Formen, letztendlich ihr Sein. Da ist jemand auf dem Heimweg, denkt man und bekommt die Frage, was denn mehr schmerzt auf dem Heimweg, die Erkenntnis, dass man gar kein Zuhause hat oder dass man jahrelang denselben Weg umsonst gegangen ist! Da fällt mir Kafkas Gedanke ein, dass es zwar ein Ziel, aber keinen Weg gebe und was wir Weg nennen nur ein Zögern sei. Auf dem Heimweg aber zögert man nicht, nun gibt es also einen Weg, aber kein Ziel, was wir Ziel nennen, ein Heim, ein Zuhause, ist nur eine Fata Morgana, ein Flirren in der sehnsüchtigen Hitze unseres Gemüts.

Ohne etwas Sinnvolles getan zu haben, wird es Nachmittag. Telefonate wären zu führen, Emails zu schreiben und Texte für die Homepages. Wozu aber Texte, wenn du merkst, dein Home, sweet Home existiert gar nicht. Text für Text entsteht, aber des Dichters Geist vagabundiert heimatlos. Was schmerzt nun mehr, dass du den Weg, all die Wege nachhause umsonst gegangen bist oder dass du kein Zuhause hast?

Ich möchte gern die wenigen Worte, die Else auf ask.fm an ihrem Erwachsenenstammtisch, mir einstmals schrieb, lesen und stoße dabei, bevor ich den Eintrag finden kann, auf meine Bemerkung an eine Facebookfreundin: «Wenn du von deinem Urlaubsort nicht mehr nach Hause möchtest, stimmt etwas mit deinem Zuhause nicht». Und sie antwortet: «Ja. Zu wenig Sonne, kein Strand und zu viel zu erledigen...» Und ich schreibe ihr: «Die Sonne ist in deinem Herzen, der Strand in deinem Verstand, und die Freiheit in der Einsicht in die Notwendigkeit». Heute frage ich mich, da der Wortwechsel gute vier Jahre zurückliegt, wie meine Erwiderung wohl auf sie gewirkt haben mag. Wenn meine Freiheit mein freies Zuhause sein soll, lassen wir mal die "Einsicht in die Norwendigkeit" beiseite, dann verspüre ich wieder einen heftigen Schmerz. Was erledigt werden muss, sollte das sein, was ich erledigen möchte, um meinen freien Willen zu realisieren - wenigstens zuhause sollte ich keinem Zwang der Fremdbestimmung erliegen. Aber wer versteht das schon?

Meine Liebste schickt mir eine Nachricht: «Kämpfe nicht gegen den Schmerz. Eine Wunde ist eine Öffnung, über die Licht in dich strömt.» Es ist ein Rumi-Zitat. Was schmerzt dich, frage ich wieder mit den Worten meines türkischen Kollegen Sinan Öztürk, die Erkenntnis, dass am Ende des täglich beschrittenen Nachhauseweges kein Zuhause existiert oder dass du den Weg all die Male umsonst gegangen bist? Ich lasse das Licht der Erkenntnis in mein Herz: der Autor und sein Double! Der Theaterphilosoph in SOKRATES im psychiatrischen Sanatorium eines verschollenen stets abwesenden Psychiaters. Behandelt wird er in Vertretung von einem Doktor, der den Namen eines Sternzeichens oder Serienmörders trägt: ZODIAC. Aber auch dieser kümmert sich nicht viel um ihn, sondern Schwester Lapidaria, die gute Seele des Hauses, eine bleichgeschminkte junge Frau mit knallrotem dick aufgetragenen Lippenstift und finster funkelnden braunen Augen. Dem etwas unbeholfen wirkenden Theaterphilosophen, der ja noch unter dem Schock seiner Verhaftung und der Brutalität der Kriminalkommissare steht, ist sie trotz ihrer zurückhaltenden Fürsorglichkeit nicht ganz geheuer. Ich möchte gerne, dass Else von den Brocken aus dem Harz, das Zepter im Sanatorium in die Hand nimmt. Und ihre ministeriale Berufung in den Dienst ist schon so gut wie sicher und längst Thema im Roman gewesen. Doch konnte die Dame bisher nicht in Erscheinung und Aktion treten, die mir die Anregung gab, die Folge 233 mache es ihr spannend... «Ja wirklich. Verlaufen und immer den Berg hoch. Na da fühle ich richtig mit, wie Basti eine alte schiefe Hütte sieht und?....darin ist ein Labor versteckt. Nein,bitte lassen Sie sich nicht von mir durcheinander bringen :)...» Ein Autor, der interaktiv schreiben will, freut sich über Anregungen und kommt gewiss nicht durcheinander. Heute würde ich Else am liebsten schreiben: «Impulse verändern den Gang der Geschichte und bringen nicht den Autor durcheinander». Aber Else hat die Plattform verlassen - die Folge 418 steht vor der Tür. In der fabelhaften Welt des Autors ist sein verstorbener Vater, der Landvermesser Mehmet Nuri Bülbül, aufgetaucht.

Mein Vater war ein fabelhafter Vater, durch seinen Umgang und seine stille, zurückhaltende und viel erduldende wie geduldige Art mit mir haben mir eine wundervolle und fabelhafte Freiheit im Leben beschert, was zum Glück über seinen Tod hinaus anhält. Der Autor und sein Double müssen nun diesem Menschen und seinem Charakter ein Denkmal setzen. In Dankbarkeit bin ich sein seiner gedenkender Sohn! Die Idee, ihn in SOKRATES einzuführen, kam mir nicht sofort, war nicht von Anfang an da. Obwohl ich mit diesem Fortsetzungsroman zwischen Fiktion und Wirklichkeit, Epik und Narrativik hin und her pendeln und alle Grenzen verschieben und aufheben wollte, sah ich von mir erst einmal ab, ohne genau sagen zu können, woran das liegt. Vielleicht habe ich eine entfremdete Kunstauffassung verinnerlicht und versuche mich einer Tradition anzupassen, die das Leben in der Kunst, ja die Kunst überhaupt verneint. Nicht offen und ehrlich, sondern poetologisch verklauseliert, versteckt, perfide und subtil. Ein wahres, wirkliches Ich soll gar nicht vorkommen. Dabei muss ich nun aber für mich eines klar erkennen und damit beginne ich: ich kann nicht als reine traditionelle Attitüde dem delphischen Imperativ: "Erkenne dich selbst!" folgen und dabei so tun, als gäbe es mich mit meinem konkreten Leben gar nicht!

Mein philosophischer Werdegang hat zwei Väter: einmal ist es in der Schrifttradition Arthur Schopenhauer und nennen wir es mal die "bürgerliche Philosophie" und einmal ist es mein Vater, der die Haltung einnahm, dass für ihn die Philosophie ein Buch mit Sieben Siegeln sei. Darüber und über einiges mehr werde ich nur literarisch schreiben können und muss hier, weil ich darüber nicht sprechen kann, schweigen. SOKRATES als literarisches Werk, erlaubt es mir am besten, stillschweigend zu erzählen; es ist die Stille der Narrativik, die mich in dieser Hinsicht sehr erfüllt. Meinen Vater an der Seite von Basti in ein Abenteuer zu schicken, worin es um das kleine und hilflose Wesen des Wolfswelpen geht, das es zu befreien gilt, wird meinem Vater und seinem Wesen, wie ich es gesehen habe, sehr gerecht. Ein Abenteuer, das zu erzählen ich mich sehr freue. Es ist mir auch ein sehr wichtiges Anliegen, dass der Geodät mit dem studierten Juristen der vierten Dimension in Berührung kommt. Zunächst aber ist es der schönen, bezaubernden und magischen Nadia vorbehalten, ein Stück gemeinsamen Weges mit Gaston de Pawlowski zu gehen, über den der Hilfskommissar Markus Oberländer fast zweihundert Folgen nach Elses wörtliches Auftauchen im Roman (Folge 238) nur Seltsames berichtet:

«Ich habe noch zwei Personen kontrolliert, Chef, sie waren auf der Landstraße und bogen dann Richtung Waldweg zur Villa ein. Der eine mit einem altmodischen Fahrrad, als wäre er aus dem vorletzten Jahrhundert – der letzte Überlebende der französischen Revolution, möchte man meinen!», schwatzte Oberländer. «Nadia Shirayuki und Gaston de Pawlowski. Letzterer nirgends gemeldet und registriert. Seine Adresse in unserem Bezirk in der Leviathanstraße 7.» Hoffmann musterte seinen Gehilfen aufmerksam. (Folge 418)

Nicht registriert, aber die Adresse ist bekannt - was erzählt der Kriminalassistent da? Kein Wunder, dass sein Chef Hauptkommisar Hoffmann ihn aufmerksam mustert. Aber halten wir uns an solchen Kleinigkeiten nicht auf - das sollen Hoffmann und Oberländer in der weiteren Erzählung selbst klären. Doch was soll ich sagen: Die Detailliebe des Hauptkommissars wird in eine andere Richtung gehen.

Es sollte nich zu viel über die Geschichte gesprochen werden, nicht weil man dann in Gefahr gerät, zu viel zu verraten; der epische Roman, wie ich ihn verstehe, nachdem ich den Begriff des Epischen dem Drama entlehnt und wieder dem Roman als eine Gattung des Romans zurückgeführt habe, -der epische Roman erhält seine Spannung nicht durch den Fortgang der Geschichte, sein Spannungsbogen orientiert sich nicht an der Fabel, sondern das Interessante am epischen Roman sind die Mosaiksteine und wie sie sich zueinander fügen. Ich stoße beim Beerensammeln auf eine Notiz "sozial-kommunikative Prozesse beim kreativen Schreiben - Eine Poetik des interaktiven Romans". Wenn sich Leben und Kunst, Leben und Literatur  jenseits der Zeichen und Codierungen berühren sollen, müssen sich Kunst und Künstler kommunikativ zeigen. Ein offener Prozess des Schreibens, der den Plot in viele Richtungen lenken kann, vor allem aber in unvorhergesehene Richtungen. Beharrlichkeit und Flexibilität müssen poetisch eine dialektische Einheit bilden und Hand in Hand alles entwickeln lassen. Eine Verbesserung in der Einarbeitung und Geschwindigkeit sind wünschenswert und möglich. Dazu aber müsste sich auch beim Publikum einiges ändern und neu entwickeln. Bisher überwiegt und blockiert die Genieästhetik die Kommunikation zwischen Autor-Autor und Publikumsautoren. Das Ende der Fahnenstange bei diesem experimentellen Roman ist zum Glück noch lange nicht in Sicht. Noch hat kaum jemand begriffen, dass man nicht alles gelesen haben muss, um Ideen einzubringen. Das ist deswegen nicht notwendig, weil es auch kein vorgeschriebenes Gesamtkonzept gibt, das es erst einmal zu erkennen gelte. Das Schreiben steckt auch für den Autor voller Überraschungen. Heute überraschte mich die Wiederentdeckung der grünen Hyäne! Basti schreibt voller Ungeduld: «Und wann kommt eigentlich endlich die Hyäne mit dem hellgrünen flauschigen Fell in der Geschichte drin vor? :3» Nach Jahren ist es soweit, obwohl Bastis Geduld schon bei dieser mittlerweile mehrere Jahre alten Frage strapaziert scheint. Nein, er ist nicht abgesprungen und verfolgt SOKRATES noch immer und seine grüne Hyäne kommt. 

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