Katharsis in der Abendröte.
Selbstbetrachtungen eines Politischen
Mein Leben ist geprägt vom Unbehagen in der Kultur. Lange vor dem Schreiben hat es angefangen. Natürlich müsste man es dann familiär bedingt nennen, als würde die gesellschaftliche Atmosphäre an diesem gezogenen Begriffszaun haltmachen. So wie die Luftmoleküle und alles, was sich natürlich bewegen darf, selbstverständlich an Zäune und von Menschen gezogene Grenzen hält. So denkt sich der Mensch vollkommen anthropozentriert Natur, Universum und Evolution aus. Das Unbehagen in mir gegen diese Kultur hat lange keine Worte gefunden, hat sich und die Welt nicht verstanden und ebenso wenig sich dann ausdrücken können. Das alles hat mein Leben lang gedauert und keinen Ausdruck gefunden, außer vielleicht im gesellschaftlichen und persönlichen Scheitern durch die Unvollendung von allem, was ich begann. Langsam wird es am beginnenden Lebensabend anders, die sinkende Sonne wirft ein anderes Licht auf mich.
In den letzten Jahren erst entwickelte sich eine Richtung, etwas halbwegs Erkennbares zeichnete sich ab. Doch wie eine Wunde offen bleibt das Unbehagen in der Kultur. Aber diese Wunde mit ihrem Schmerz lässt sich besser beschreiben, und die Frage taucht auf, ob sie nicht womöglich sogar heilt, erst juckt sie und hoffentlich juckt mich demnächst nichts mehr. Der Heilung geht das Verständnis voraus. Das Leben intensiver spürend äußere ich, das Unbehagen, wer weiß, wie nützlich dies wem auch immer sein kann? Womöglich wird die Äußerung sogar dazu führen, dass ich es loswerde. Die Fragwürdigkeit von Nutzen und Erfolg ist ein Teil dieser hier auszudrückenden Kulturphilosophie.
Ich skizziere kurz die intellektuelle Seite meiner persönlichen Biografie:
Ich nehme mir zwei Arbeitspunkte heraus und nenne sie: 1. Poetik & Philosophie und 2. Der Vollmond-Talk als Blog. Eigentlich müsste ich sie besser allgemein benennen als: 1. die textbasierte Arbeit, die aus Lesen und Schreiben besteht; 2. die performative Seite der Arbeit in Reden, Diskussionen, Auftritten.
Diese beiden Punkte stehen in einem dialektischen Spannungsverhältnis; C.G. Jung spricht psychologisch von "Enantiodromie", ich: angelehnt an Hegel, Marx und Brecht von "Dialektik", Freud von "Ambivalenz" und fernöstlich wird von "Yin und Yang" gesprochen. Vielleicht reden alle über dasselbe, aber jeder Ausdruck wirft auch ein anderes Licht darauf, jeder Kulturkreis und dann aber auch darin jedes Individuum hat einen etwas anderen Blick darauf. Diese Gedankenfigur ist mir mittlerweile sehr wichtig geworden: bei aller subjektiven Differenz, die auch sehr wichtig ist, können wir von "Differenz" nur reden, wenn auch klar ist, dass wir dasselbe Objekt betrachten. Und wenn wir in Betracht ziehen, dass wir in jeder Aussage, die wir "objektiv" (=auf das Objekt bezogen) treffen, immer auch unsere subjektive Perspektive inbegriffen ist und eine Rolle spielt.
So komme ich nun unter dieser Voraussetzung zur Dialektik zwischen Poetik & Philosophie und dem Vollmond-Talk.
Der erste Punkt steht ganz allgemein für meine schriftstellerische Arbeit. Ich möchte alles darunter verstehen, wozu ich zu schreiben geneigt bin, was bisher verschriftlicht wurde und in Zukunft verschriftlicht werden wird. Das ist die literarische Seite des Geistes und der Seele im wahrsten "literarischen" Sinne. Am Ende stehen Buchstaben!
Auf der anderen Seite aber ist noch etwas, was sich dialektisch in den letzten drei Jahren so deutlich herauszukristallisieren begann: das gesprochene, dann aber auch damit untrennbar verbunden, das gelebte und erlebte Wort, das aus sich heraus und damit über sich hinaus in das erlebte und gelebte Leben führt und von dort wieder auf das Schreiben zurückwirkt. Das Denken und Erleben beim Spaziergang gehört zum Beispiel auch dazu. Momentan nenne ich es den "Vollmond-Talk", davor aber waren es politische Diskussionen oder dann die Postdramatik mit den Bühnenauftritten und gehaltenen Reden im Katakomben-Theater, wobei diese Reden noch zu sehr an das Gechriebene angelehnt, eher Unsicherheit bedeuteten. Wir sollten den "Vollmond-Talk" als Formulierung arbiträr verstehen. Es gibt keinen in der Sache liegenden notwendigen Zusammenhang zwischen der Sache und dem Ausdruck. Der "Vollmond-Talk" symbolisiert eine bestimmte Geisteshaltung, die ich mittlerweile deutlicher einzunehmen vermag, die sich in der Postdramatik aber entwickelt hat und herangereift ist. Ich könnte sie aber auch KYNOSOPHIE nennen und den Aspekt des Hundespaziergangs als Erlebnis- und Meditationsraum mit einbeziehen. Die Kynosophie ist für mich der Ausdruck der Freude am Leben – mit all den Spaziergängen, mit allem, was ich mit Diego Li und TariLi erlebe!
Beim Hundespaziergang am 14. April 2025, der wieder mal traumhaft schön war, und wofür die Bezeichnung “paradiesisch” alles andere als übertrieben ist, machte ich mir Gedanken um meine intellektuelle Entwicklung nach meiner AStA-Phase als Referent für "Kritische Wissenschaften": erst hatte ich die ZERFAHRENHEIT, dann das ÄSTHETIKUM und darin die ZERFAHRENHEIT und nun bin ich über den Sensualismus des ÄSTHETIKUMS zu POETIK & PHILOSOPHIE gekommen. Das ÄSTHETIKUM hat sich um die pragmatische Spiritualität erweitert, während die ZERFAHRENHEIT den Ausgang aus der Phase der Kritischen Wissenschaften darstellt und vom Labyrinth-Roman gekennzeichnet ist. Als 18 Jahre später 2014 der SOKRATES-Roman entsteht, hat die ZERFAHRENHEIT durchaus auch als psychopathologischer Begriff eine neue Qualität erreicht. Ich beschreibe zwar auch psychopathologische Prozesse und begebe mich mit meinen Avatar Uri Nachtigall in diese Prozesse, aber der Höhepunkt der idealistischen Irritation der ZERFAHRENHEIT, in der sich Lemming im Labyrinth-Roman befindet, der ja auch mein Avatar ist, obwohl ich damals diesen Ausdruck noch nicht kannte, liegt hinter mir. Das Studium an der Universität ist abgebrochen, ich befinde mich in der Phase, in der ich mich voll und ganz zum Künstlerischen bekennen möchte, aber scheinbar doch noch nicht kann. Ist Sokrates Philosoph oder Steinmetz? Oder changiert seine Identität zwischen den beiden Lebensformen? Ich jedenfalls habe keinen handwerklichen und bürgerlichen Halt, ich bin in der Grundverunsicherung, als ich den Fortsetzungsroman zu schreiben beginne, die Hoffnung auf eine universitäre Sicherheit als bürgerliche Lebensform hat sich für mich bereits als vollkommen illusionär herausgestellt. Bleibt noch der Weg der künstlerischen Lebensform. Da ist mein Vater, der ja die Hoffnung auf diese universitäre Laufbahn nie ganz aufgeben wollte, und dem ich zu gefallen suchte, schon fast fünf Jahre tot. 2014 ist auch das Essener "Textzentrum" bereits ein Jahr zu und zugunsten des Gartenhäuschens im Kleingarten als "Kulturlaube" ("Musenkultur trifft Gartenkultur") aufgegeben. Die Kleinverlegerei, der Literaturverein "Das Schreibhaus" und das Textzentrum-Essen haben nicht funktioniert. Sie haben keine selbständige bürgerliche Existenz gewährleisten können. Die ideellen und psychologisch-autobiographischen Hintergründe sind nun ein Fall für die autohermeneutische Selbst-Analyse. Oder sollte ich besser sagen: "Ich-Analyse"? Erst jetzt in meinem 62. Lebensjahr traue ich mich, einfach offen und ehrlich über mein Leben zu spekulieren und seit ein paar Tagen erst könnte ich das auch einen "weiteren Schritt in meinem Individuationsprozess" nennen. Der Schwefelnebel aus der Hölle lichtet sich ein wenig. Ich schreibe öffentlich, aber im Wesentlichen schreibe ich für mich.
Ist das nicht die beste Art der Poetik, in der sich das Allgemeine im Besonderen offenbart?
Diese zentrale Formel für die Qualität von Literatur wird mir ein Schlüssel zu mir selbst und damit auch zu meiner Individualität als politischen Menschen. Ich erlange Klarheit über mich, über mein Unbehagen in der Kultur und erlange ein Verständnis von der Verwobenheit meines ontogenetischen Seins mit dem Phylogenetischen in der Globalkultur. Ich bin in meinem Nanokosmos mit dem Makrokosmos verbunden.
Obwohl es überhaupt keinen "rationalen", "pragmatischen", "vernünftigen", oder wie man es sonst nennen möchte, Grund dafür gibt, hat mich vor einigen Tagen meine Entdeckung der Seelenmetaphysik als energetische Ursuppe, aus der einzelne Seelen sich herausschälend "inkarnieren", um dann wieder mit dem physischen Tod des Körpers in die Ursuppe zurückzukehren, ungeheuer befreit und beruhigt. Ich kann keinen Grund dafür angeben, warum dieses Gefühl der Befreiung damit einhergeht, aber mit dieser Seelenmetaphysik ist der Knoten geplatzt. Ich fühle mich erleichtert und frei. Kein umherirrender Lemming bin ich mehr, keine Uri Nachtigall in der Psycho-Villa des Doktor "Parranoia", der sich vor der Schwester Lapidaria fürchtet und von der er sich zugleich angezogen fühlt. Der sprechende Delphin verkündet dem "kleinen Vögelchen", wie die Schwester Maya Maylala ihren "Klienten" (nicht "Patienten", darauf legt man in diesem Sanatorium großen Wert) nennt, die ökologisch-kosmologische Seelenmetaphysik.
Natürlich ist sie keine Tatsachenbehauptung, was quasi religiös wäre. Sie ist eine hermeneutische Spekulation, eine Interpretationshypothese in der Weltdeutung. Sie hat ihre Plausibilität, was nicht zu verwechseln ist mit der Realität, denn ob das alles wirklich so ist, kann niemand sagen, außer eben im SOKRATES-Roman der sprechende Delphin im gleichnamigen fiktiven Buch, was Uri Nachtigall geschrieben haben soll, was er aber selbst bestreitet.
Er sagt: "Ich kann mich nicht erinnern, diese Bücher geschrieben zu haben".
Da drückt sich der Avatar sehr unglücklich aus ("Ich erinnere mich nicht...") und liefert Schwester Lapidaria Verdachtsmomente; er ist sich eigentlich sicher: „Die Paradiesologie“ und „Der sprechende Delphin“ nicht geschrieben zu haben. Die Schwester richtet Uri Nachtigall ein Zimmer ein, sediert ihn mit einem Beruhigungsmittel im Tee und behält ihn im Sanatorium. Er nimmt die beiden Bücher mit auf sein Zimmer und hat die Idee eines Experimentes: er will gar nicht damit beginnen, in den Büchern zu blättern und zu lesen, sondern er fragt sich, was er wohl unter den Titeln geschrieben haben würde, wenn er denn diese Bücher geschrieben hätte, und beginnt zu schreiben. Von da an wird es mystisch; denn die Texte in den Büchern passen sich dem, was Uri Nachtigall schreibt, wortwörtlich an! Wie aber, und das ist die Frage, die mich als Autor sehr interessiert, reagieren Menschen, die mit Phänomenen konfrontiert werden, die ihre gewohnte Rationalität sprengen und unerklärbar bis unheimlich sind? Sind das die Grenzfälle menschlichen Bewusstseins?
Was geht in dem Avatar vor? Angst, Zweifel, Experimentierfreude in Abwechslung, Neugier und die Entdeckung eines neuen Weges zu philosophieren?
Es bleibt dabei: Ich mag keine Lehren, Belehrungen, Schulweisheiten, Tatsachenbehauptungen, keine Esoterik, keine Religion, keinerlei Dogmatik! Es bleibt bei Gedankenspielen und Spielereien. Oder eben: Spinnereien! Was weiß denn ich, ob es die Seelenursuppe als kosmologisches Energiefeld oder was auch immer realiter gibt? Ich habe nichts als das, was ich habe: mir leuchtete etwas ein, ganz ohne Erleuchtung und verschaffte mir psychische Erleichterung, einen Frei- und Frohsinn, ohne dass ich irgendeinen Grund dafür angeben könnte. Was kann mich daan erleichtern, dass meine Seele nach meinem Tod sich in einer Seelenursuppe auflöst wie ein Regentropfen im Ozean?
Es geschah in einem Halbdämmerzustand, halb schlief ich, halb wachte ich, und da war der Einfall der Seelenmetaphysik, der Schopenhauers Willensmetaphysik in sich einschloss und eine Antwort auf die Frage gab: warum die Anzahl der Seelen nicht wächst, wenn es immer mehr Menschen auf der Erde gibt, oder umgekehrt, woher diese Inkarnationen kommen, wenn sie nicht körperlich entstehen; denn nicht jede Neugeburt kann ja eine Inkarnation sein, es sei denn, sie schöpft ein Löffelchen aus der Seelenursuppe, immer kleine Teile hieraus inkarnieren und werden wieder zur Ursuppe, wenn der Tod die Physis auflöst. Nie inkarniert sich die ganze Seelenursuppe.
Und darin gibt es keine psychologische Identität, so dass man sinnvoll von einer "Seelenwanderung" sprechen könnte. Die Einzelseele (nennen wir sie "Psyche") löst sich komplett wieder auf wie der obene erwähnte Regentropfen im Ozean (oder eben eine "Träne im Ozean"). So ließe sich auch erklären, warum es keine Erinnerung an vorherige Inkarnationen und Leben gibt: In der Ursuppe der Seele lösen sich Identität und das identitätsstiftende Gedächtnis einer konkreten, individuellen Psyche auf. Es bleibt nichts, was wandern könnte.
Aber ob das wirklich so ist, kann ich weder wissen noch behaupten! Es ist eine Spekulation, eine erdachte Möglichkeit, die in gewisser Hinsicht plausibel klingt. Aber nicht alles, was plausibel klingt, ist auch real existent. Wozu also sollte Dogmatik und Dogmatisieren gut sein? Auch "Rebirthing-Experimente" in Hypnose u.ä. lassen sich verschieden und strittig interpretieren. Eindeutigkeit und Gewissheit in solchen Fragen sind nicht zu erlangen. Sie bleiben religiöse Überzeugungen, die man glauben muss oder auch nicht. Und ich bin als Skeptiker eher auf der Seite derjenigen, die von religiösen Behauptungen Abstand nehmen. Diese Haltung inklusive der oben skizzierten Seelenmetaphysik nenne ich "spirituelle Pragmatik", denn dass es Seele und Geist gibt, lässt sich nicht bestreiten, fraglich ist nur, wie sie im Zusammenhang zur Physis stehen. Ich werde gewiss nicht den Versuch unternehmen, das Leib-Seele-Problem erneut philosophisch aufzurollen.
Ich komme zurück zu meiner Mutter, ein wichtiges Element meiner psychischen Hölle, wozu es ja in Anlehnung an C.G. Jung den schrecklichen Begriff des "Mutterschmerzes" gibt. Aber was man schnell lernen und begreifen kann, ist, dass weder meine Mutter eine besonders "böse" Mutter war, noch dass es um eine Abrechnung mit dieser Mutter geht. Vielmehr habe ich eine Wunde in mir, einen Schmerz, den höchstwahrscheinlich alle Menschen auf verschiedenen Wegen und durch verschiedene individuelle Erlebnisse erfahren. Da aber jeder Mensch an seinem Schmerz leidet, muss auch niemand sich und seine Empfindungen mit anderen messen und vergleichen. Kein Schmerz lässt sich auf diese Weise relativieren und lindern.
Ich glaube aber, dass ich als das zweitgeborene Kind im Unterschied zu meinem elf Jahre älteren Bruder viel mehr Aufmerksamkeit und Mutterliebe erfahren habe, als er, was sich an vielen biografischen Details belegen ließe. Ich glaube aber auch, dass mir das Zuviel ebenso geschadet hat, wie ihm das Zuwenig, auch wenn wir beide damit sehr unterschiedlich, ja geradezu gegensätzlich, umgegangen sind. Ob wir uns das aber aussuchen konnten, ist äußerst fraglich. Ich wurde, seit ich denken kann, als ein kleiner verständiger, weiser und vernünftiger Philosoph und Freund der Mutter verhätschelt und überfordert, so dass ich nichts anderes zu tun vermochte, als mich zum Philosophen zu bilden, wobei aber, da wiederum meine Mutter zu intervenieren suchte und mir nahelegte, ich solle doch besser einen technischen Beruf ergreifen oder Medizin studieren. Das seien sichere Berufe, von Philosophen wisse sie, dass sie früher oder später den Verstand verlören.
Bis ich meine Mutter in den SOKRATES-Roman einführte, vergingen 509 Folgen und ein Großteil meines Lebens. Zuvor wollte ich meine derart innerlichen Dinge literarisch und philosophisch überhaupt nicht thematisieren. Mein Leben sollte privat sein. Es gibt aber kein privates Leben, nur einige Intimitäten sind von absoluter Belanglosigkeit.
Doch, woher diese Scham, das eigene Leben zu literarisieren? Bin ich nicht literarisch mit Kafkas "Brief an den Vater" aufgewachsen? Ist es nicht selbstverständlich, dass Schreiben auch eine Therapieform ist? Nein. Ich gab mich den Mythen über Literatur hin. Literatur hatte etwas mit politischer Moral, gesellschaftlicher Verantwortung zu tun, mit der Aufgabe, politisch die Verhältnisse zu ändern. Dem gegenüber stand Literatur als eskapistische Unterhaltung, als Kitsch und Trivialität. Doch wer hatte mich dazu auserkoren, ein schriftstellernder Aufklärer und Weltverbesserer zu sein? Woher leitete ich meine Fähigkeit dazu ab? Inspirierten mich Schiller, Heine, Büchner, Beckett, Brecht, Biermann und Böll? Konnte ich mich durch braves Studium klassisch gesellschaftsrelevanter Literatur oder einiger Texte aus diesem Kanon zu einem selbst gesellschaftspolitisch relevanten Autor erheben? Mit hohem Anspruch landete ich in eigener Metaphorik im Labyrinth als ein Lemming des Prometheus. So hebt der Labyrinth-Roman mit dem Satz an, den Martin Luther King in seiner legendären Rede immer wieder verwendete:
Ich habe einen Traum: am Computer sitzend grüble ich über Probleme, deren Lösung fast schon auf der Hand zu liegen scheint. Es ist wie ein Wort, das einem auf der Zunge liegt, im entscheidenden Moment aber nicht einfällt, wie z.B. in einer wichtigen Prüfung. So verwandelt sich mein Computer in eine Prüfungskommission, verliert seine liebevolle Hilfsbereitschaft und mag keinen einzigen Satz mehr akzeptieren, bis mir diese eine, so sehr wichtige Lösung wieder in den Sinn kommt. Sie aber kommt mir nicht in den Sinn. Auf dem Bildschirm eine kugelrunde Bombe mit brennender Zündschnur und die Worte im eben geöffneten Fenster: ”Systemfehler in Ihrem Denken. Fortsetzung der Arbeit unmöglich!” An meiner Tür drängeln Leute. Das ist mein Traum. Sie drängeln und drängen und bedrängen mich wortlos. Einige Hände strecken sich nach dem Sicherungskasten und wollen mir den Strom abdrehen.
Mein Traum aber führte zu keiner gesellschaftlichen Perspektive, zu keiner demokratischen Forderung nach Freiheit und Gleichheit aller Menschen, sondern, so viel Selbsterkenntnis war damals schon vorhanden: zum intellektuellen Absturz. Konnte ich mich da nicht zum Opfer des Humboldtschen Bildungsideals stilisieren?
»Er hatte den höchsten Gipfel des Erziehungsgedankens überhaupt erfaßt, die Idee der in sich zur eigenen, harmonischen Schönheit gereiften Persönlichkeit, deren Wirkung darauf beruht, daß sie da ist und sich der Anschauung darbietet. Eine solche Persönlichkeit bereichert die Idee der Menschheit allein durch ihr Vorhandensein.« Eduard Spranger?
„Mir heißt in das Große und Ganze wirken: auf den Charakter der Menschheit wirken, und darauf wirkt jeder, so bald er auf sich und bloß auf sich wirkt.“ So sprechen Tote und Leute, die von Privatlehrern erzogen wurden. Ich hatte an das Gerede geglaubt, bis sie mir den Strom abstellten und mein Bildschirm sich in eine dunkle Fratze verwandelte. Nun spuke ich durch irgendwelche Gänge und höre mir an, daß Humboldt gestorben sei. Dabei mußte man doch nur ganz einfach auf sich und bloß auf sich wirken. „Woran arbeitest du?“ wurde ich gefragt. Und ich hätte antworten können: „ich bereite meinen nächsten Irrtum vor“, aber dieser Teufelskerl flüsterte mir zu „du arbeitest an dir, mein Freund, du arbeitest immer nur an dir!“ Jahrelange und nichtendenzuwollende Arbeit an mir, bis der Strom abgestellt wurde. Unzählige Hände an meinem Stromkasten und dann plötzlich Leere. Systemfehler in meinem Denken?! Ich kann's nicht fassen. [Aus dem Labyrinth-Roman]
Erst habe ich mich im Labyrinth verlaufen und dann, als ich Daidalos gleich davon fliegen wollte, habe ich mich verflogen! Da stoße ich in meinen alten Notizen auf ein Zitat:
„Wer keine Freude am Lebendigen hat, wird keine Freude am Leben haben.“1
1Bertolt Brecht, Me-ti. Buch der Wendungen, Prosa Bd. 2, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1980. S.478.
Aber wozu schreiben, wenn das Bemühen um das Eigentliche der Psyche keine Rolle spielen soll?
Ich wollte nicht eskapistisch sein, auch nicht Nabelschau-Literatur betreiben, ich wollte nicht so etwas schreiben wie "Kindheitsmuster", meine Kindheitsmuster waren, so meine (wie ich heute sagen würde: irrige) Annahme, nicht von Belang. Mittlerweile sehe ich es anders. Bei den Turbulenzen meines Irrfluges habe ich meine Brille verloren.
Also ließ ich in SOKRATES zaghaft und ironisch distanziert Folgendes passieren: Die "schöne Richterin" Caroline Blank, die mit dem fettleibigen Kommissar Hoffmann zum Staunen aller liiert ist, macht sich große Sorgen um ihren Mann, der in die "Psycho-Villa", das Sanatorium des "Doktor Parranoia" ("nur echt mit dem doppelten "R") gefahren ist und fährt ihm nach. Mit dem Kriminalassessor Oberländer muss sie aber ihre Fahrt in das Forsthaus im magischen, mysteriösen Hattinger Wald Richtung Forsthaus, fortsetzen, weil sie erfährt, dass ihr Mann zum Haus des Försters gefahren ist:
Sie ließ Oberländer fahren. Erstens war sie sehr aufgeregt, auch wenn sie noch einen kurzen ruhigen Wortwechsel mit dem Theaterphilosophen hinbekommen hatte, was Oberländer eifersüchtig und gallig abspeicherte, zweitens wollte sie auf die Gegend besser achten, falls ihr Mann irgendwo auf dem Weg zum Forsthaus abgebogen oder von der Straße abgekommen war. Mit auf dem Kiesboden durchdrehenden Antriebsrädern fuhren sie los. Sie warf noch einmal einen Blick zurück auf die Villa; nur in wenigen Fenstern brannte noch Licht, aber sie konnte die Zimmer nicht zuordnen. Und schon lag die Villa auch hinter ihnen. «Ist Ihnen der Radfahrer auch begegnet?», fragte Oberländer. Trotz der kleinen Vertraulichkeit im Zimmer des Theatermenschen, der dem Kriminalassessor mehr als unsympathisch war, blieb er förmlich und korrekt beim „Sie“. «Nein, aber ein Mercedes-Fahrer kam mir entgegen und versperrte den Weg», antwortete sie. «Ach ja, den habe ich auch gesehen. Mercedes Kombi! T-Modell, älteres Baujahr. Ich habe eine allgemeine Verkehrskontrolle bei den Kollegen von der Streife in der Nähe angeordnet. Seine Personalien werden wir auf jeden Fall haben. Den Radfahrer hatte ich schon am Nachmittag mit einer jungen Dame angetroffen.» «Und Sie meinen, ich müsste ihn dann gegen Mitternacht auch antreffen?» Sie war auch wieder förmlich. Im dunklen Wald, sie beide allein im Auto – da wollte Frau Richterin wohl keine allzu große und missverständliche Vertrautheit aufkommen lassen. Oberländer war ein wenig enttäuscht. «Nein, nein, ich habe ihn kurz vor der Villa auch wieder gesehen», erwiderte er. «Ein seltsamer Vogel! Wie aus der Vergangenheit!» Statt einer Antwort stieß die schöne Richterin einen Schrei aus: «Vorsicht!» Oberländer hatte die Rücklichter des Wagens, der plötzlich vor ihnen aufgetaucht war, auch gesehen und sofort reagiert. Es war ein alter grüner Borgward Isabella; die Farbe nahmen die beiden gar nicht richtig wahr. Oberländers schnelle Reaktion hatte einen Auffahrunfall verhindert: «Verdammt! Wo kommt der denn plötzlich her!», rief er und auch um seinem Schrecken Luft zu machen, während er wütend hupte, die Sirene und das Blaulicht einschaltete, was er auf das Dach seines zivilen Fahrzeugs durchs Seitenfenster magnetisch heftete. Anstatt zur Seite zu fahren und den Weg freizugeben oder wenigstens zu beschleunigen, blieb der Borgward stehen. Die Scheinwerfer leuchteten nun in den Innenraum des Oldtimers, und sie konnten sehen, wie eine Frau am Steuer wild gestikulierte und schimpfte. «Ich mach das schon!», sagte die Richterin und sprang aus dem Wagen. Auch die Fahrerin des Oldtimers hatte die Tür aufgemacht, um auszusteigen, aber Caroline Blank war mit einem Satz schon bei ihr. «Polizei im Einsatz! Würden Sie bitte den Weg frei geben, wenigstens so, dass wir an Ihnen vorbei kommen?» «Sie verraten mir erst einmal Ihren Rang und Ihre Dienststelle, stellen sich ordentlich vor und ich fahre 100m weiter, dort ist eine kleine Einbuchtung...
Folge 511
...wo ich Sie vorbei lassen kann!» kam als Antwort von einer kleinen etwas pummeligen aber sehr energisch wirkenden Frau mit blondierten Haaren. Sie war etwa 40 Jahre alt, jedenfalls längst nicht so alt, wie ihr Auto aus den 1950ern. «Amtsrichterin Dr. jur. Caroline Blank und am Steuer im Wagen mein Kollege Kriminalassessor Markus Oberländer Polizeipräsidium Hattingen!» antwortete die schöne Richtern überkorrekt. «Frau Richterin! Ich wünsche Ihnen viel Erfolg bei Ihrem Einsatz. Ich bin Diplomingenieurin Behice Bübül und habe dem Gouverneur schon tausendmal gesagt, dass wir diese Straße erweitert und ausgebaut brauchen! Er hat nur einen Lastwagen voll Kies verstreuen lassen, als wollte er den Bürgern Sand in die Augen streuen», sagte die Frau, ließ den Motor aufheulen und fuhr mit schleifender Kupplung an. Als Caroline Blank wieder neben Oberländer Platz genommen hatte, war die Straße auch schon knapp aber frei. «Bestimmt ein alter Drachen, eine Kräuterhexe oder so!», schimpfte Oberländer als sie am Borgward vorbei waren. Die Richterin schwieg. Oberländer setzte noch einmal nach: «Was macht die Hexe um diese Zeit auf dem Waldweg mit ihrer Kiste – es ist nicht Sonntag und es ist nicht Nachmittag! Was für eine Spazierfahrt soll das sein?» Auch dazu schwieg die schöne Richterin.
Wäre an dieser Stelle nicht eine Ausdeutung des Literarischen angebracht? Warum begegnen sich die "schöne Richterin" und meine Mutter zu allererst, wenn ich meine Mutter in den Roman einführen will? Was stellen die weiblichen Romanfiguren für mich dar? Solche Fragen können zur Oberflächlichkeit der Küchentischpsychoanalyse verleiten.
Andererseits stellt sich die Frage in den Raum: Wieviel Allgemeines lässt sich in diesem Besonderen erkennen, oder analytisch herausdestillieren? Ist diese Art von psychologisierender Literatur und Literaturinterpretation nicht bis zum Erbrechen oft praktiziert worden und Jahrtausende alt? Wozu noch einmal ein Uri Bülbül und dessen SOKRATES lesen? Wozu all das schreiben? Hier ist die Dialektik der Sinnfrage mit der Sinnkrise. Warum lebe ich? Warum leben andere, warum alle Menschen oder Wesen? Ist nicht alles angesichts der unendlichen Weiten des Universums bedeutungs- und sinnlos? Alle erleben etwas anderes und alle erleben doch das Gleiche! Warum sollte immer und immer wieder darüber geschrieben werden? Das wird den Lauf der Gestirne in der Milchstraße und anderswo nicht verändern! Ist aber nicht gerade diese Sinnfrage die größte Anmaßung? Kann ein Staubkorn im Universum nicht einfach ein Staubkorn sein und sein Wesen ausleben, nur weil es ein Staubkorn im Universum ist und den Sinn des Universums gar nicht begreifen kann, obwohl doch Eines, ob als Sinn oder Unsinn, klar und gewiss ist: dass dieses Universum das Staubkorn eines menschlichen Individuums hervorgebracht hat. Eine ganze Staubwolke von Individuen schwirrt durch ein Fleckchen Universum auf dem Planeten Erde und soll ihr Wesen nicht erfragen dürfen und Halt machen vor der Sinnfrage?
Meine existenzielle Rebellion besteht darin, dass ich die Sinnfrage als eine unverschämte, anmaßende, unsinnige Bremse zurückweise!
Die Büchse der Pandora ist offen! Kommt heraus, all ihr Schwefelnebelschwaden!
Hier lest ihr meine öffentliche Selbstanalyse in all ihrer Sinnlosigkeit, und habt Anteil an meinem Glück, dass ich all das zu schreiben die Gelegenheit habe!
Ich bin da! Ich existiere! Ich lebe! Ich verstehe!
SOKRATES LEBT! LANG LEBE SOKRATES!
AntwortenLöschenBeim Lesen des ersten Satzes lief es mir wie Schauer den Rücken herunter. Verfolgt mich die Uni in deinen Roman? Ich besuche ein Seminar, in dem Freuds ,Das Unbehagen in der Kultur‘ gelesen wird. Ich hab noch nicht viel Ahnung von Freud, nur einige Vorurteile und den Verdacht, dass Freud mit dem Wissen über die heutigen medizinischen Fortschritte kein Freudianer wäre. Sind die chemischen Abläufe die zu Emotionen und Ungleichgewichten führen doch deutlich bekannter und für manches auch schon Medikamente entwickelt.
„Der Geist-Suppenseele-Dualismus des Uri Bülbül“ :D – als Interessierte von Philosophien des Geistes aller Art würde ich deine Aufrollerei gerne anschauen.
Gut so! Vom Standpunkt des Universums aus kann alles immer nur bedeutungslos erscheinen. Wir sollten uns von solchen Taschenspielereien der Beliebigkeit nicht den Tag verderben lassen, finde ich 😊
"Interessiert an Philosophien des Geistes"? Und beim "Lesen des ersten Satzes ... Schauer den Rücken herunter "? Was kann nur so schaurig daran sein, auf Themen bei mir zu stoßen, auf die du auch an der Universität stößt? Ich habe mich nicht zwanzig Jahre lang als Suchender, Irrender und Studierender durch die Universität bewegt, um ihr völlig unbeleckt den Rücken zu kehren!
LöschenSchaurig und gruselig war für mich, zu erleben, wie "Scheinstudentinnen und Studenten " im Studium schneller vorankamen und langsam aber auch sicher die Ämter zu besetzen, während alle politisch Aktiven gegen die Verschulung und die Demontage der Universitätsidee reihenweise entweder umkippten und nun auch ihren schnellen Abschluss suchten oder durch Studiengebühren ihren Abschuss durch Exmatrikulation fanden. Und die, die ich eher als untalentierte wie untaugliche Kommilitonen hielt, kamen zu Amt und Würden. Die anderen fielen ab vom Baum der Alma Mater. Hilflos schockiert schrieb ich an meinem Labyrinth-Roman. Daher die Begegnung des Lemming mit dem "jungen Intellektuellen " im Flur. Das muss ich beizeiten hier aufgreifen und noch einmal veröffentlichen. Am Ende faule auch ich unter dem Stamm, von dem ich weit nicht fallen konnte, während du die Nähe schaurig findest.
„Der Geist-Suppenseele-Dualismus des Uri Bülbül“ :D – als Interessierte von Philosophien des Geistes aller Art würde ich deine Aufrollerei gerne anschauen.
AntwortenLöschen"Aufrollerei" - du spöttelst! Der Spott ist eitel und fällt nicht schön auf dich zurück. Und der Titel, den du für meine Ursuppenidee eines universellen Geistes oder einer Energie gewählt hast, zeugt nicht gerade von Verständnis. Daher meine Frage, an dich, die du ja gerne andere an die Hand nimmst und leitest: wie kommst du auf Dualismus?
Das Vorhandensein von Geist und Materie macht noch keinen Dualismus, dieser entsteht erst, wenn wir wie Descartes eine Unvereinbarkeit zwischen diesen beiden Seinsformen annehmen. Was aber wenn Geist und Materie zwei Aggregatzustände einer Entität sind?
Du versteckst dich mit "als Interessierte von Philosophien des Geistes aller Art würde ich deine Aufrollerei gerne anschauen" hinter klatschenden Arroganz des Publikums in der Dunkelheit der Anonymität.