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VierteDimension

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Es ist Montag, der 24. Februar 2020. Im Moment ist das Datum nicht interessant. Später, wenn das Leben mir Zeit, Raum oder einfach die Gelegenheit dazu lässt, einmal auf mein Posting zurückzuschauen, werde ich durch das Datum etwas Wehmut hervorrufen können oder ein Aha-Erlebnis haben. "Das also hast du damals (schon?) gedacht", werde ich mir sagen. Vielleicht werde ich über meine Naivität etwas schmunzeln und mich mögen, vielleicht etwas bewundern an mir, was sich wie Weitsicht anfühlt oder ich werde traurig und melancholisch sein, dass ich im Laufe der Zeit nichts daraus gemacht habe. Wie auch immer wird die Zeitlichkeit der Dinge in meinem Kopf und in meinen Schriften eine Rolle spielen. Überhaupt habe ich den Eindruck, dass die Zeitlichkeit der Schrift immanent ist, weil Schrift immer und ihrem Wesen nach sich gegen die Zeit stemmt. Die Zeit, die als Abfolge von Ereignissen, mit einer Kausalität belegt, im wahrsten Sinne des Wortes die Chronologie ergibt, ist auch ein wichtiger Faktor, ein essentieller Bestandteil der Narration. Die Narration muss die Chronologie enthalten wie die Suppe das Wasser. Aber die Narration will sich wie die Schrift auch gegen die Zeitlichkeit stemmen, die Ereignisse in einer Kausalität ordnen und dem Vergessen und Verschweigen entreißen. Die Erzählung will, dass das Erzählte bleibt und geteilt wird. Es ist daher schier paradox und als solches kaum auszuhalten, wenn ein Geheimnis erzählt wird: die Formel "Das bleibt unter uns" beschwört zwar gemeinhin die Verschwiegenheit, aber wir können auch und sollten nicht zuletzt unsere Aufmerksamkeit auf das Wörtchen "bleibt" richten. Das Erzählte soll auch bleiben, soll eben nicht einfach verschwinden. Ein Geheimnis existiert zwar unter dem Siegel der Verschwiegenheit, aber es existiert. Eine radikale Verschwiegenheit würde das Geheimnis auslöschen. Was wirklich vergessen ist, kann von niemandem niemals mehr erzählt werden.

Auch darum kann es bei SOKRATES gehen: um das Geheimnis und das Geheimnisvolle und um das Paradox des Geheimnisses, das erzählt und doch nicht weitererzählt werden soll.

Und damit komme ich zu dem Gedanken, den ich auf heute datiert unbedingt festhalten will - ja, auch oder überhaupt gegen die Zeitlichkeit! Festhalten gegen die Chronologie des Vergessens! Dem ging vor einiger Zeit ein anderer Gedanke voraus, ich glaube, es war im Zusammenhang mit dem Hardenberg-Projekt: ich will für meine Erzählweise den Begriff des Epischen aus dem Theaterdiskurs in die Romanpoetik zurückholen. Das Epische hat im Theater eine besondere Funktion, eine der verfremdenden Distanzierung der Rezipienten vom Geschehen zugunsten einer dadurch möglich werdenden Reflexion im Sinne einer Theorie, die einen Schritt zurück und raus aus dem Geschehen macht, um eine betrachtende Position einzunehmen, wie manchmal Maler einen Schritt zurück gehen von der Staffelei, um sich einen planerischen oder analytischen Blick auf ihr Werk zu verschaffen. Die Theorie ist auch dazu da, dass man sich im Detail nicht verliert, das Epische ist dazu da, dass man sich im Dargestellten auf der Bühne nicht verliert oder im Roman eben dazu da, dass man sich nicht in der Narration verliert, nicht im Fluss der Ereignisse ertrinkt. Das Epische mit der implementierten Theorie ist ein Innehalten in einem Schritt zurück aus dem Gang der Ereignisse. So ist mein heutiger Gedanke der, dass Epik und Narration voneinander zu unterscheiden sind und mein SOKRATES ein epischer Roman in dem Sinne gemeint ist wie Brechts episches Theater. Und auf die Aktivierung der Leserschaft kommt es an. Sie kann kommentieren, kann Vorschläge machen, kann sich in die Geschichte einbringen, wie es zum Beispiel Else gemacht hat, so dass ich schnell motiviert war, sie zur neuen Leiterin des psychiatrischen Sanatoriums zu ernennen:
«Herr Bülbül...ich grüße aus dem Harz.....Folge 233 macht es für mich spannend. Ja wirklich. Verlaufen und immer den Berg hoch. Na da fühle ich richtig mit, wie Basti eine alte schiefe Hütte sieht und?....darin ist ein Labor versteckt. Nein,bitte lassen Sie sich nicht von mir durcheinander bringen:)»
Die schiefe Hütte wurde eingeführt, darin Viktor, ein Freund Bastis platziert, wobei Basti und Viktor mindestens einen Altersabstand haben wie Vater und Sohn oder gar ein relativ junger Opa und Enkel. So entstehen und entwickeln sich durch Impulse von außen neue Verflechtungen in der Geschichte. Aber schafft das Sicheinbringen in die Geschichte Abstand? Jenen Schritt zurück zur Theorie?
Ich möchte dies nicht als die ultima ratio der Verfremdung im Roman darstellen, aber ich bin in dieser Hinsicht durchaus zuversichtlich, denn wer sich in der Geschichte mit einem Roman-Avatar platzieren möchte, muss den notwendigen Schritt rückwärts machen, um besser abschätzen zu können, wo er in die Geschichte eintauchen möchte. Aber mir ist auch durchaus klar, dass ich meine Leserschaft idealisiere. In der Wirklichkeit interessiert sich kaum jemand umfassend und eingehend für das Romanprojekt, niemand mag sich die analytische Mühe machen, die eine Interpretation uns abverlangt, Kunstverstand und Kunstverständnis im Sinne von Sich-Einlassen ist beschränkt vorhanden, das Interesse gering - nicht nur an meinem Roman, sondern allgemein an Literatur. Aber wer sich bei der Betrachtung der Leserschaft in einen Pessimismus manövriet, kann das Schreiben nicht mehr ausüben. Erstens erlebt man als Autor auch immer wieder sehr positive Überraschungen und zweitens muss man von den bestmöglichen Rezeptionsverhältnissen ausgehen, um selbst sein Bestes beim Schreiben geben zu können.
Ich muss poetologisch von der "Rückgewinnung des Epik-Begriffes vom Drama für den Roman" sprechen! Wie es das "epische Theater" nach Brecht gibt, so gibt es auch einen "epischen Roman" nebst dem erzählenden, narrativen Roman! Der narrative Roman ist plotorientiert, der epische Roman sorgt dafür, dass man sich nicht in der Geschichte, nicht im Plot verliert - Die Identifikationsmomente werden durch Spiegelungen von Metabetrachtungen durchbrochen.

So unterscheide ich also zwischen Epik und Narration. Über die Bedeutung der Narration habe ich oben einige Bemerkungen gemacht: Zeit und Kausalität prägen den Begriff der Chronologie - der Perlenkette der Ereignisse am seidenen Faden der Kausalität.

Während des poetologischen Philosophierens entwickelt sich im primären Romantext selbst eine Spiegelung der Metaebene in der Handlung, die eine extrapolierende Weiterführung der romantischen Ironie ist. Aus der romantischen Ironie wird die vierte Dimension der Erzählung durch Spiegelungen und Verschachtelungen der Metaebenen, so entsteht ein Strickmuster des epischen Romans, jenes Romanmodells, das Erzählen und Reflexion miteinander verwebt und den Plot verfremdet. Ab da kann nun auch der Primärtextfür sich sprechen... die SOKRATES-Folgen 405 bis 410 entstehen.

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